Post by Sam Melo on Aug 3, 2022 19:54:38 GMT 1
Adrift
1. Verloren
"Blaue Perle, Wiege der Menschheit, Terra, Heimat – die Erde hatte viele Namen. Jedermann erinnerte sich an sie, so selbstverständlich wie die Luft, die wir atmeten, so natürlich wie das Wasser, welches aus den Bergen hinabfloss. Die Erde war für uns schon immer da gewesen. Sie war das Zentrum unseres Seins und die Grundlage für alles uns bekannte Leben. Doch als ich vierzehn Jahre alt war, veränderte sich alles. Nicht nur, dass das Projekt, an dem meine Mutter arbeitete, hoch gefährlich war, sondern auch dass es im ganzen Universum nichts wichtigeres gab als eine Bindung zu einem anderen Menschen und zu einem Ort, den man Heimat nennen konnte.
Auf der Raumstation, die im Jahre 2135 um den Mond kreiste, war mein Vater als Forschungsleiter für niederfrequente Subraumstrahlung stationiert. Ich war mit ihm an Bord, da meine Mutter auf der Erde vorübergehend einen Antimateriereaktor besuchen musste, der offenbar massive Probleme verursacht hatte. An Bord der Station war mir sterbenslangweilig. Aya Nakamura war die einzige an Bord, die in meinem Alter war. Alle anderen Jugendlichen lebten entweder auf der Erde oder gingen zur Akademie der Vereinigten Erdstreitkräfte, wo ich im nächsten Jahr auch hinwollte. Doch mein Vater zog es vor, mich für die angehenden schulischen Prüfungen büffeln zu lassen, die viel weniger abfragen würden, als ich in all den Büchern entnommen hatte, die er mir aufgebrummt hatte. Doch "das Studium ist die wichtigste Aufgabe des Menschen", so sagte er immer. Später würde ich herausfinden, wie sehr recht er hatte. Doch was nützte das alles jetzt? Eines Tages wurde ich durch einen schrillen Alarm aus dem Bett gerissen. Ich wusste, es war keine Übung, dafür waren alle zu aufgewühlt. Im nächsten Fenster wurde ich jedoch auf ein abscheuliches Schauspiel aufmerksam. Die Erde wurde zerstört. Knapp ein drittel des Planeten war abgesprengt und Trümmerteile bewegten sich langsam scheinend auf uns zu. Mein Vater packte mich am Arm und zerrte mich zur nächsten Rettungskapsel. Ich hatte absolut keine Ahnung, was passiert war, doch mein Vater wirkte unheimlich aufgewühlt. Weiß er etwas? Ich spreche in der Gegenwartsform, da ich mir sicher bin, dass er am Leben ist, obwohl ich ihn zuletzt auf der Station sah, die kurz nach meiner Abreise von Trümmern des Planeten zerfetzt wurde. Die Leitung der Station kam jedenfalls auf die Idee alle Leute in Rettungskapseln in das System Alpha Centauri zu schicken, um von den Kolonisten Hilfe zu erhalten, doch ich glaube, dass können wir uns schenken. Einige Korvetten haben sich bereits auf den Weg gemacht, um so früh wie möglich mit ihnen zu verhandeln.
Ich habe nur ein kleines Problem. Seit einigen Tagen stecke ich in dieser Kapsel und bisher konnte ich den Kälteschlaf nicht einleiten. Auch wenn ich mit dieser Geschwindigkeit erst in einigen Jahrtausenden dort ankommen werde und mit Sicherheit auf Proxima Centauri b eine vollkommen andere menschliche Kultur leben wird, war es der beste Plan, den wir hatten, denn alle Kolonien im Sol-System wurden ebenfalls zerstört. Nur weiß ich nicht, was die Ursache sein konnte.
Ich hoffe, ich werde noch am Leben sein, wenn ich in – ich weiß nicht wie vielen – Jahren an unserem nächsten Stern ankomme. Falls nicht, hoffe ich, dass dieser kleine Logbucheintrag dabei helfen wird zu verstehen, was genau vor so langer Zeit mit unserer Heimat passierte. Ich habe alle verloren. Meine Mutter, Sarah Colson; meinen Vater, Inácio de Melo, meine einzige Freundin Aya ... und alle anderen Menschen unseres Planeten. Wer ist noch da draußen? Ich habe einige Rettungskapseln gesehen, doch werden sie die gleiche Geschwindigkeit wie ich haben? Wenn sie nur um wenige Meter pro Sekunde langsamer sind, werden sie Jahrzehnte später eintreffen. Oder werden wir überhaupt das Ziel erreichen? Wenn ich den Kälteschlaf aktiviere, werde ich in einen tiefen und traumlosen Schlaf gleiten, aus den ich höchstwahrscheinlich nie wieder erwache. Ich mache mir nichts vor. Die Chance, die Kolonie zu treffen, ist verschwindend gering. Noch geringer ist die Chance, dass jemand meine Kapsel in den Tiefen des Weltraums auffinden wird. Falls ich jedoch aufwachen sollte, wird der Schlaf nur einen kurzen Augenblick dauern – da bin ich mir sicher. Dann kann ich Ihnen persönlich erzählen, was passierte. Ich hoffe, Sie werden mich dann überhaupt noch verstehen können.
So ... ich leite nun die Sequenz ein. Mein Name ist Sam Melo, 12 Jahre alt. Wir sehen uns in vielen Jahren."
Nach einem langen, sehr langen Schlaf mit einem seltsamerweise intensiven Albtraum öffnete sich die Kapsel und gleißendes Licht blendete mich. Der Traum kam mir noch so real vor, dass das Licht mich an eine gewaltige Explosion erinnerte. Reflexartig schlug ich mit den Gliedmaßen um mich und stieß einige Gegenstände um. Ich konnte noch nichts erkennen. Ich wusste, dass ich endlich aus der Kapsel raus war, doch meine Orientierung litt kräftig unter dem vergangenen Traum, in dem die Erde in gleißendem Licht vernichtet wurde. Hände packten mich und versuchten mich still zu halten, doch ich wollte mich nicht anfassen lassen. Hatte ich es geschafft? Waren das die Menschen von Alpha Centauri? Würde ich meine neue Heimat in den Felshöhlen und unter der Glaskuppel von Proxima Centauri b finden? Ich bemerkte, dass das gleißende Licht nicht abnahm. Ich war blind und konnte nur Umrisse meiner Umgebung wahrnehmen.
"Hilfe, Hilfe", krächzte ich und ließ meine Arme senken. Eine Stimme sprach, doch ich verstand kein Wort. Sie klang fremd und vollkommen unmenschlich. Wenig später schlief ich wieder ein.
Nach einem weiteren, dieses Mal traumlosen, Schlaf erwachte ich und starrte an die Decke. Meine Sehkraft war wieder zurückgekehrt und die Schreckensbilder der Zeit vor dem Kälteschlaf kehrten wieder zurück, doch dieses Mal viel weniger intensiv. Ich drehte mich zur Seite und blickte auf einen Monitor, der einen menschlichen Körper abbildete. Vollkommen mir unbekannte Schriftzeichen waren darauf abgebildet. Hatten die Menschen von Alpha Centauri etwa eine eigene Sprache entwickelt? Das wäre denkbar, nachdem sie sich vom irdischen Sonnensystem abgekapselt hatten. Auch wenn sie den Terranern Verachtung entgegenbrachten, war ich hier auf ihrer Krankenstation und sie pflegten mich wieder gesund.
Ich blickte nach links und schaute durch ein breites Fenster auf ein mit Wald bewachsenes Tal, einen Wasserfall und schneebedeckte Berge. Es war also nur ein Traum gewesen. Alles. Ich war nicht auf dem sandigen Planeten Proxima Centauri b, der über eine recht unwirtliche Atmosphäre verfügt, sodass die Menschen unter der Oberfläche leben mussten. Es sah aus wie der Westen Kanadas. Vielleicht hatte mich meine Mutter hierhergebracht? Was war mit mir geschehen, dass ich nun auf der Krankenstation liegen musste? Es war auf jeden Fall etwas, was man heilen konnte. Und danach würde ich wieder bei meiner Familie sein. Ich würde wieder mit meinen Eltern durch die Stadt spazieren. Ich würde in Vancouver die Berge und die Wälder sehen können. Ich würde in Porto Alegre wieder meine Freunde besuchen können. Ich würde wieder Menschen sehen.
Einige Stunden lang lag ich da und bewunderte die Schönheit der Natur. Die Schriftzeichen auf dem Monitor hatte ich längst vergessen. Auch die seltsame Sprache der Frauen und Männer, die mich gefunden hatten. Kurz kam mir der Gedanke eines Schlaganfalls, doch wusste ich nicht wieso ich daran dachte. Das Schauspiel von draußen faszinierte mich zu sehr. Es war also wirklich nur ein Traum gewesen.
Die Tür zischte auf und herein kamen zwei der Ärzte. Doch als ich sie genauer betrachtete gefror mein Blut zu Eis. Meine Stimme blieb in meinem Hals stecken und ich rutschte zur Bettkante, um ja nicht von ihnen berührt zu werden. Es waren keine Menschen!
Sie hielten inne und betrachteten mich neugierig. Sie waren zwar so groß wie Menschen, hatten ein nahezu menschliches Gesicht, hatten zwei Arme, zwei Beine, trugen menschenähnliche Kleidung und hatten menschenähnliche Körper, doch waren es keine. Es sei denn sie hatten sich als Außerirdische verkleidet und wollten mich auf eine Kostümparty mitnehmen. Und für einen kurzen Augenblick beruhigte mich dieser Gedanke. Doch waren ihre mintgrüne Haut, ihre katzenartigen Augen und die sechs Tentakel, die wie Haare aus ihrem Hinterkopf sprossen viel zu realistisch um als Kostüm durchzugehen. Hatte sich jemand einen Scherz erlaubt? Wer würde einen verletzten Jungen in solch einer Aufmachung begrüßen? Noch saß ich wie festgenagelt am Rande des Bettes und versuchte so viel wie möglich zu verstehen.
Beide schauten sich an. Sie waren offensichtlich beide weiblich. Mein Vater war wohl keiner von beiden. In einer sehr merkwürdig klingenden Sprache redeten die beiden miteinander. Es klang fast wie genuscheltes Japanisch. Wenn das ein Scherz war, dann war er sehr gut einstudiert. Eine der beiden Frauen verließ das Zimmer, doch die andere trat näher an das Bett heran. Ich rutschte etwas weiter weg, doch ihr Gesicht veränderte sich ein wenig. Sie wirkte nun viel neugieriger und beäugte mich, als ob sie einen übergroßen Salamander gefunden hätte, der ihr biologisch sehr gefiel.
"Was wird hier gespielt?!", entwich es mir und die Frau schreckte zurück.
Noch interessierter schaute sie mich an. Sie legte ihre Hände gekreuzt auf ihre Brust und sagte etwas vollkommen unverständliches.
"Ich verstehe nicht", erwiderte ich.
Sie wiederholte es und ich meinte etwas wie "Vaylirya" zu vernehmen.
"Vaylirya?", sagte ich und Panik kam in mir hoch. Langsam begriff ich, dass sie keine Menschenfrau war. Ihre Bewegungen waren denen eines Menschen ähnlich und doch sehr verschieden. Sie wirkte in keinster Weise vertraut, eher fremd. Ich hatte nie einen Menschen sich so bewegen sehen, obwohl ihre Art des Vorstellens der eines Menschen fast gleich war.
Sie beugte sich weiter nach vorne und wiederholte ihren seltsamen Namen: "Vaylirya". Meine Atmung wurde langsamer und meine Angst wich langsam. Sie wirkte in keinster Weise bedrohlich. Ihre gelben Augen funkelten und sie saß plötzlich still und vollkommen ruhig auf der Bettkante, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
"Sam", sagte ich und deutete auf mich selbst. Ihr entfuhr ein Lächeln. Wie war das möglich? War sie eventuell doch ein Mensch in einem Alienkostüm? Sie war freundlich, sie war doch menschlich. Wie konnte das sein? Noch nie ist ein Mensch einem außerirdischen begegnet. Und dennoch waren wir uns ähnlich – in den meisten Bereichen, wie mir schien.
"Oloya bo bakamoro loyo1", sagte sie, was ich allerdings nicht verstand. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob das die Worte waren, die sie aussprach. "Boloya na karima no oyo.2"
"Ich verstehe leider kein Wort." Ich bemerkte, wie meine Stimme ruhiger wurde. Es war angenehm ihrer Stimme zuzuhören. Mit jedem Wort, welches wir wechselten, fürchtete ich mich weniger und ein Gefühl von Vertrautheit baute sich zwischen uns auf. Auch wenn Vaylirya keinerlei Angst vor mir hatte, da sie mich wahrscheinlich nicht als Bedrohung ansah, war diese Situation für sie wahrscheinlich selbst neu gewesen. An einigen Stellen wirkte sie verunsichert. War ich das erste Alien auf diesem Planeten? Wenn ja, dann verlief der Kontakt wesentlich glimpflicher als wenn ein Alien die Erde besucht hätte.
Bis Sonnenuntergang – ich nenne es einfach so, da mich dieser Stern sehr an unsere Sonne erinnerte – unterhielten wir uns. Ich lernte einige Wörter und konnte mich zumindest mit den aller einfachsten Begriffen verständigen. Vaylirya wirkte oft menschlich. Sie lachte, sie schaute zu Boden, wenn sie nachdachte, und sie wirkte bestürzt, wenn ich etwas trauriges erzählte.
Unsere Unterhaltung ließ mich die dunkle Zeit in der Rettungskapsel und die Erinnerungen an die Erde vergessen, doch als sie spät nachts das Zimmer verlassen wollte, um schlafen zu gehen, hielt ich ihren Arm fest. Sie verstand sofort und setzte sich lächelnd wieder auf das Bett.
Ich wusste nicht, ob sie vom Schicksal meines Planeten oder menschlicher Überlebender wusste, doch war es keine Sensation auf diesem Planeten, wenn ein menschliches Kind hier behandelt wurde.
Am nächsten Tag führte mich Vaylirya durch die Anlage, die ich "Krankenhaus" nannte, da auch einige andere ihres Volkes niedergeschlagen wirkten und von Pflegern und Angehörigen begleitet wurden. Es war ein riesiges Gebäude mit viel natürlichem Licht, das durch Spiegel von der Decke in die riesige Aula reflektiert wurde. Hier und da beäugten mich die Wesen – ich wusste sie leider nicht anders zu bezeichnen. Kinder deuteten auf mich und amüsierten sich über meine Haare auf dem Kopf, die sie nicht hatten. Sie würden sie vielleicht im Erwachsenenalter erhalten, wie Männer, wenn sie einen Bart bekämen.
Vaylirya redete die ganze Zeit mit mir. Sie dachte vielleicht, dass ich irgendwann von alleine verstehen würde. Und tatsächlich erkannte ich einige Wörter ihrer Sprache wieder, wusste sie jedoch nie sofort zuzuordnen.
Ungeniert verließen wir das Gebäude vor dem ein kleiner Park war. Die gesamte Anlage hing an einem Berghang und man hatte einen herrlichen Ausblick auf das Tal mit den Wasserfällen und den mit Schnee bedeckten Bergen. Vogelähnliche Tiere krähten und zwitscherten und Fische schwammen wie wild durch die Becken, die am Rand des Areals als Wasserfall in die Tiefe stürzten. Die Luft schmeckte und roch rein – so rein, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gekostet hatte. Die Luft auf der Armstrongstation war zwar nie abgestanden gewesen, doch war es nie vergleichbar mit der frischen Luft der Serra Gaúcha gewesen, wo mein Vater geboren worden war.
Die Luft auf diesem Planeten war vergleichbar frisch, etwas süßlicher, als ob ein leichter Duft von Orchideen die Atmosphäre bereicherte. Ich hatte nie gedacht, dass ich jemals wieder den Duft der Natur kosten durfte.
1"Ich heiße dich sehr [herzlich] willkommen."
2"Habe keine Angst vor mir."
1. Verloren
"Blaue Perle, Wiege der Menschheit, Terra, Heimat – die Erde hatte viele Namen. Jedermann erinnerte sich an sie, so selbstverständlich wie die Luft, die wir atmeten, so natürlich wie das Wasser, welches aus den Bergen hinabfloss. Die Erde war für uns schon immer da gewesen. Sie war das Zentrum unseres Seins und die Grundlage für alles uns bekannte Leben. Doch als ich vierzehn Jahre alt war, veränderte sich alles. Nicht nur, dass das Projekt, an dem meine Mutter arbeitete, hoch gefährlich war, sondern auch dass es im ganzen Universum nichts wichtigeres gab als eine Bindung zu einem anderen Menschen und zu einem Ort, den man Heimat nennen konnte.
Auf der Raumstation, die im Jahre 2135 um den Mond kreiste, war mein Vater als Forschungsleiter für niederfrequente Subraumstrahlung stationiert. Ich war mit ihm an Bord, da meine Mutter auf der Erde vorübergehend einen Antimateriereaktor besuchen musste, der offenbar massive Probleme verursacht hatte. An Bord der Station war mir sterbenslangweilig. Aya Nakamura war die einzige an Bord, die in meinem Alter war. Alle anderen Jugendlichen lebten entweder auf der Erde oder gingen zur Akademie der Vereinigten Erdstreitkräfte, wo ich im nächsten Jahr auch hinwollte. Doch mein Vater zog es vor, mich für die angehenden schulischen Prüfungen büffeln zu lassen, die viel weniger abfragen würden, als ich in all den Büchern entnommen hatte, die er mir aufgebrummt hatte. Doch "das Studium ist die wichtigste Aufgabe des Menschen", so sagte er immer. Später würde ich herausfinden, wie sehr recht er hatte. Doch was nützte das alles jetzt? Eines Tages wurde ich durch einen schrillen Alarm aus dem Bett gerissen. Ich wusste, es war keine Übung, dafür waren alle zu aufgewühlt. Im nächsten Fenster wurde ich jedoch auf ein abscheuliches Schauspiel aufmerksam. Die Erde wurde zerstört. Knapp ein drittel des Planeten war abgesprengt und Trümmerteile bewegten sich langsam scheinend auf uns zu. Mein Vater packte mich am Arm und zerrte mich zur nächsten Rettungskapsel. Ich hatte absolut keine Ahnung, was passiert war, doch mein Vater wirkte unheimlich aufgewühlt. Weiß er etwas? Ich spreche in der Gegenwartsform, da ich mir sicher bin, dass er am Leben ist, obwohl ich ihn zuletzt auf der Station sah, die kurz nach meiner Abreise von Trümmern des Planeten zerfetzt wurde. Die Leitung der Station kam jedenfalls auf die Idee alle Leute in Rettungskapseln in das System Alpha Centauri zu schicken, um von den Kolonisten Hilfe zu erhalten, doch ich glaube, dass können wir uns schenken. Einige Korvetten haben sich bereits auf den Weg gemacht, um so früh wie möglich mit ihnen zu verhandeln.
Ich habe nur ein kleines Problem. Seit einigen Tagen stecke ich in dieser Kapsel und bisher konnte ich den Kälteschlaf nicht einleiten. Auch wenn ich mit dieser Geschwindigkeit erst in einigen Jahrtausenden dort ankommen werde und mit Sicherheit auf Proxima Centauri b eine vollkommen andere menschliche Kultur leben wird, war es der beste Plan, den wir hatten, denn alle Kolonien im Sol-System wurden ebenfalls zerstört. Nur weiß ich nicht, was die Ursache sein konnte.
Ich hoffe, ich werde noch am Leben sein, wenn ich in – ich weiß nicht wie vielen – Jahren an unserem nächsten Stern ankomme. Falls nicht, hoffe ich, dass dieser kleine Logbucheintrag dabei helfen wird zu verstehen, was genau vor so langer Zeit mit unserer Heimat passierte. Ich habe alle verloren. Meine Mutter, Sarah Colson; meinen Vater, Inácio de Melo, meine einzige Freundin Aya ... und alle anderen Menschen unseres Planeten. Wer ist noch da draußen? Ich habe einige Rettungskapseln gesehen, doch werden sie die gleiche Geschwindigkeit wie ich haben? Wenn sie nur um wenige Meter pro Sekunde langsamer sind, werden sie Jahrzehnte später eintreffen. Oder werden wir überhaupt das Ziel erreichen? Wenn ich den Kälteschlaf aktiviere, werde ich in einen tiefen und traumlosen Schlaf gleiten, aus den ich höchstwahrscheinlich nie wieder erwache. Ich mache mir nichts vor. Die Chance, die Kolonie zu treffen, ist verschwindend gering. Noch geringer ist die Chance, dass jemand meine Kapsel in den Tiefen des Weltraums auffinden wird. Falls ich jedoch aufwachen sollte, wird der Schlaf nur einen kurzen Augenblick dauern – da bin ich mir sicher. Dann kann ich Ihnen persönlich erzählen, was passierte. Ich hoffe, Sie werden mich dann überhaupt noch verstehen können.
So ... ich leite nun die Sequenz ein. Mein Name ist Sam Melo, 12 Jahre alt. Wir sehen uns in vielen Jahren."
Nach einem langen, sehr langen Schlaf mit einem seltsamerweise intensiven Albtraum öffnete sich die Kapsel und gleißendes Licht blendete mich. Der Traum kam mir noch so real vor, dass das Licht mich an eine gewaltige Explosion erinnerte. Reflexartig schlug ich mit den Gliedmaßen um mich und stieß einige Gegenstände um. Ich konnte noch nichts erkennen. Ich wusste, dass ich endlich aus der Kapsel raus war, doch meine Orientierung litt kräftig unter dem vergangenen Traum, in dem die Erde in gleißendem Licht vernichtet wurde. Hände packten mich und versuchten mich still zu halten, doch ich wollte mich nicht anfassen lassen. Hatte ich es geschafft? Waren das die Menschen von Alpha Centauri? Würde ich meine neue Heimat in den Felshöhlen und unter der Glaskuppel von Proxima Centauri b finden? Ich bemerkte, dass das gleißende Licht nicht abnahm. Ich war blind und konnte nur Umrisse meiner Umgebung wahrnehmen.
"Hilfe, Hilfe", krächzte ich und ließ meine Arme senken. Eine Stimme sprach, doch ich verstand kein Wort. Sie klang fremd und vollkommen unmenschlich. Wenig später schlief ich wieder ein.
Nach einem weiteren, dieses Mal traumlosen, Schlaf erwachte ich und starrte an die Decke. Meine Sehkraft war wieder zurückgekehrt und die Schreckensbilder der Zeit vor dem Kälteschlaf kehrten wieder zurück, doch dieses Mal viel weniger intensiv. Ich drehte mich zur Seite und blickte auf einen Monitor, der einen menschlichen Körper abbildete. Vollkommen mir unbekannte Schriftzeichen waren darauf abgebildet. Hatten die Menschen von Alpha Centauri etwa eine eigene Sprache entwickelt? Das wäre denkbar, nachdem sie sich vom irdischen Sonnensystem abgekapselt hatten. Auch wenn sie den Terranern Verachtung entgegenbrachten, war ich hier auf ihrer Krankenstation und sie pflegten mich wieder gesund.
Ich blickte nach links und schaute durch ein breites Fenster auf ein mit Wald bewachsenes Tal, einen Wasserfall und schneebedeckte Berge. Es war also nur ein Traum gewesen. Alles. Ich war nicht auf dem sandigen Planeten Proxima Centauri b, der über eine recht unwirtliche Atmosphäre verfügt, sodass die Menschen unter der Oberfläche leben mussten. Es sah aus wie der Westen Kanadas. Vielleicht hatte mich meine Mutter hierhergebracht? Was war mit mir geschehen, dass ich nun auf der Krankenstation liegen musste? Es war auf jeden Fall etwas, was man heilen konnte. Und danach würde ich wieder bei meiner Familie sein. Ich würde wieder mit meinen Eltern durch die Stadt spazieren. Ich würde in Vancouver die Berge und die Wälder sehen können. Ich würde in Porto Alegre wieder meine Freunde besuchen können. Ich würde wieder Menschen sehen.
Einige Stunden lang lag ich da und bewunderte die Schönheit der Natur. Die Schriftzeichen auf dem Monitor hatte ich längst vergessen. Auch die seltsame Sprache der Frauen und Männer, die mich gefunden hatten. Kurz kam mir der Gedanke eines Schlaganfalls, doch wusste ich nicht wieso ich daran dachte. Das Schauspiel von draußen faszinierte mich zu sehr. Es war also wirklich nur ein Traum gewesen.
Die Tür zischte auf und herein kamen zwei der Ärzte. Doch als ich sie genauer betrachtete gefror mein Blut zu Eis. Meine Stimme blieb in meinem Hals stecken und ich rutschte zur Bettkante, um ja nicht von ihnen berührt zu werden. Es waren keine Menschen!
Sie hielten inne und betrachteten mich neugierig. Sie waren zwar so groß wie Menschen, hatten ein nahezu menschliches Gesicht, hatten zwei Arme, zwei Beine, trugen menschenähnliche Kleidung und hatten menschenähnliche Körper, doch waren es keine. Es sei denn sie hatten sich als Außerirdische verkleidet und wollten mich auf eine Kostümparty mitnehmen. Und für einen kurzen Augenblick beruhigte mich dieser Gedanke. Doch waren ihre mintgrüne Haut, ihre katzenartigen Augen und die sechs Tentakel, die wie Haare aus ihrem Hinterkopf sprossen viel zu realistisch um als Kostüm durchzugehen. Hatte sich jemand einen Scherz erlaubt? Wer würde einen verletzten Jungen in solch einer Aufmachung begrüßen? Noch saß ich wie festgenagelt am Rande des Bettes und versuchte so viel wie möglich zu verstehen.
Beide schauten sich an. Sie waren offensichtlich beide weiblich. Mein Vater war wohl keiner von beiden. In einer sehr merkwürdig klingenden Sprache redeten die beiden miteinander. Es klang fast wie genuscheltes Japanisch. Wenn das ein Scherz war, dann war er sehr gut einstudiert. Eine der beiden Frauen verließ das Zimmer, doch die andere trat näher an das Bett heran. Ich rutschte etwas weiter weg, doch ihr Gesicht veränderte sich ein wenig. Sie wirkte nun viel neugieriger und beäugte mich, als ob sie einen übergroßen Salamander gefunden hätte, der ihr biologisch sehr gefiel.
"Was wird hier gespielt?!", entwich es mir und die Frau schreckte zurück.
Noch interessierter schaute sie mich an. Sie legte ihre Hände gekreuzt auf ihre Brust und sagte etwas vollkommen unverständliches.
"Ich verstehe nicht", erwiderte ich.
Sie wiederholte es und ich meinte etwas wie "Vaylirya" zu vernehmen.
"Vaylirya?", sagte ich und Panik kam in mir hoch. Langsam begriff ich, dass sie keine Menschenfrau war. Ihre Bewegungen waren denen eines Menschen ähnlich und doch sehr verschieden. Sie wirkte in keinster Weise vertraut, eher fremd. Ich hatte nie einen Menschen sich so bewegen sehen, obwohl ihre Art des Vorstellens der eines Menschen fast gleich war.
Sie beugte sich weiter nach vorne und wiederholte ihren seltsamen Namen: "Vaylirya". Meine Atmung wurde langsamer und meine Angst wich langsam. Sie wirkte in keinster Weise bedrohlich. Ihre gelben Augen funkelten und sie saß plötzlich still und vollkommen ruhig auf der Bettkante, ohne dass ich es mitbekommen hatte.
"Sam", sagte ich und deutete auf mich selbst. Ihr entfuhr ein Lächeln. Wie war das möglich? War sie eventuell doch ein Mensch in einem Alienkostüm? Sie war freundlich, sie war doch menschlich. Wie konnte das sein? Noch nie ist ein Mensch einem außerirdischen begegnet. Und dennoch waren wir uns ähnlich – in den meisten Bereichen, wie mir schien.
"Oloya bo bakamoro loyo1", sagte sie, was ich allerdings nicht verstand. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob das die Worte waren, die sie aussprach. "Boloya na karima no oyo.2"
"Ich verstehe leider kein Wort." Ich bemerkte, wie meine Stimme ruhiger wurde. Es war angenehm ihrer Stimme zuzuhören. Mit jedem Wort, welches wir wechselten, fürchtete ich mich weniger und ein Gefühl von Vertrautheit baute sich zwischen uns auf. Auch wenn Vaylirya keinerlei Angst vor mir hatte, da sie mich wahrscheinlich nicht als Bedrohung ansah, war diese Situation für sie wahrscheinlich selbst neu gewesen. An einigen Stellen wirkte sie verunsichert. War ich das erste Alien auf diesem Planeten? Wenn ja, dann verlief der Kontakt wesentlich glimpflicher als wenn ein Alien die Erde besucht hätte.
Bis Sonnenuntergang – ich nenne es einfach so, da mich dieser Stern sehr an unsere Sonne erinnerte – unterhielten wir uns. Ich lernte einige Wörter und konnte mich zumindest mit den aller einfachsten Begriffen verständigen. Vaylirya wirkte oft menschlich. Sie lachte, sie schaute zu Boden, wenn sie nachdachte, und sie wirkte bestürzt, wenn ich etwas trauriges erzählte.
Unsere Unterhaltung ließ mich die dunkle Zeit in der Rettungskapsel und die Erinnerungen an die Erde vergessen, doch als sie spät nachts das Zimmer verlassen wollte, um schlafen zu gehen, hielt ich ihren Arm fest. Sie verstand sofort und setzte sich lächelnd wieder auf das Bett.
Ich wusste nicht, ob sie vom Schicksal meines Planeten oder menschlicher Überlebender wusste, doch war es keine Sensation auf diesem Planeten, wenn ein menschliches Kind hier behandelt wurde.
Am nächsten Tag führte mich Vaylirya durch die Anlage, die ich "Krankenhaus" nannte, da auch einige andere ihres Volkes niedergeschlagen wirkten und von Pflegern und Angehörigen begleitet wurden. Es war ein riesiges Gebäude mit viel natürlichem Licht, das durch Spiegel von der Decke in die riesige Aula reflektiert wurde. Hier und da beäugten mich die Wesen – ich wusste sie leider nicht anders zu bezeichnen. Kinder deuteten auf mich und amüsierten sich über meine Haare auf dem Kopf, die sie nicht hatten. Sie würden sie vielleicht im Erwachsenenalter erhalten, wie Männer, wenn sie einen Bart bekämen.
Vaylirya redete die ganze Zeit mit mir. Sie dachte vielleicht, dass ich irgendwann von alleine verstehen würde. Und tatsächlich erkannte ich einige Wörter ihrer Sprache wieder, wusste sie jedoch nie sofort zuzuordnen.
Ungeniert verließen wir das Gebäude vor dem ein kleiner Park war. Die gesamte Anlage hing an einem Berghang und man hatte einen herrlichen Ausblick auf das Tal mit den Wasserfällen und den mit Schnee bedeckten Bergen. Vogelähnliche Tiere krähten und zwitscherten und Fische schwammen wie wild durch die Becken, die am Rand des Areals als Wasserfall in die Tiefe stürzten. Die Luft schmeckte und roch rein – so rein, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gekostet hatte. Die Luft auf der Armstrongstation war zwar nie abgestanden gewesen, doch war es nie vergleichbar mit der frischen Luft der Serra Gaúcha gewesen, wo mein Vater geboren worden war.
Die Luft auf diesem Planeten war vergleichbar frisch, etwas süßlicher, als ob ein leichter Duft von Orchideen die Atmosphäre bereicherte. Ich hatte nie gedacht, dass ich jemals wieder den Duft der Natur kosten durfte.
1"Ich heiße dich sehr [herzlich] willkommen."
2"Habe keine Angst vor mir."